Gefangen im Schwebezustand – Wenn Warten zum Lebensgefühl wird

Ich habe ein Tagebuch. Ein Tagebuch, das mir Fragen stellt. Manchmal banale wie: „Mit wem hast du heute zu Mittag gegessen?“, manchmal tiefgründige wie: „Was hast du heute Neues gelernt?“
Es begleitet mich über fünf Jahre. Jedes Jahr beantworte ich dieselben Fragen am selben Tag und kann so meine Entwicklung verfolgen. Ich sehe, wo ich mich verändert habe – und wo nicht. Und genau das frustriert mich gerade zutiefst.
Ich bin jetzt im dritten Jahr, und meine Antworten ähneln sich erschreckend. Die gleichen Wünsche, die gleichen Träume. Und kein einziges Mal bin ich ihnen nähergekommen.
Es fühlt sich so an als wäre Warte mein Lebensgefühl geworden. Als wäre ich Gefangen im Schwebezustand. Nicht hier, aber auch nicht dort.

Der Stillstand, der keiner ist
Ich trete auf der Stelle. Ich warte. Ich warte auf Entscheidungen, die andere treffen müssen. Ich warte auf Besserung, die ich nur bedingt beeinflussen kann. Ich warte auf Umstände, die sich ändern sollen. Es ist ein Warten, das sich zäh anfühlt, das mich ausbremst. Aber nicht, weil ich untätig bin. Sondern weil ich nicht anders kann.
Denn ich bin pflegende Mutter. Eines meiner Kinder hat eine Behinderung, und das bedeutet, ein fremdbestimmtes Leben zu führen. Ein Leben, das sich in einem kleinen Radius abspielt. Ein Leben, das oft einsam ist. Ein Leben, in dem Planungen selten Bestand haben, weil sich Dinge von einem Tag auf den anderen ändern können.
An den meisten Tagen komme ich damit zurecht. Aber gerade jetzt nicht.
Jahreswechsel und das große „Was wäre wenn?“
Der Jahreswechsel bringt Hoffnung. Es ist dieser Moment, in dem die Welt kollektiv nach vorne schaut. Neue Möglichkeiten, Träume, der große Wunsch nach Veränderung. „Dieses Jahr wird anders!“, denken viele. Und dann folgt die Realität. Die Erkenntnis, dass das Leben nicht über Nacht eine andere Richtung einschlägt.
Für mich fühlt sich das besonders schwer an. Es ist nicht nur die Ernüchterung, die mich trifft. Es ist die Erkenntnis, dass mein Stillstand nicht freiwillig ist. Dass ich nicht einfach „durchstarten“ kann, wie so viele Ratgeber es suggerieren. Es ist, als säße ich in einem Raum, die Tür verschlossen, der Schlüssel irgendwo draußen – in den Händen anderer.
Ich will handeln, verändern, vorankommen. Ich will Projekte beginnen, mich weiterentwickeln, etwas Eigenes aufbauen. Aber mein Leben erfordert besondere Rahmenbedingungen. Und diese ändern sich ständig.

Die Angst vor dem Anfang – oder vor dem Ende?
Ein Teil von mir könnte trotzdem beginnen. Große oder kleine Dinge. Und doch tue ich es nicht. Ich fühle mich ausgebremst, als hätte ich Angst, mich in etwas hineinzustürzen, das ich später wieder aufgeben muss. Die Energie, die Hoffnung, das Herzblut – wäre das alles umsonst, wenn es scheitert?
Vielleicht ist es eine Art Schutzmechanismus. Kontrolle über das Wenige behalten, das ich kontrollieren kann. Mich nicht auf Dinge einlassen, die ich wieder aufgeben muss. Nicht riskieren, enttäuscht zu werden. Denn Scheitern ist eine Option. Eine von vielen.
Und je länger ich in diesem Schwebezustand bleibe, desto schwerer wird es den Schwebezustand in dem ich mich befinde zu verlassen.
Prokrastination oder Selbstschutz?
Es gibt einen Begriff für dieses Phänomen: „Prokrastination aus Angst vor Fehlern“. Wir schieben Dinge hinaus, nicht weil wir faul sind, sondern weil der Gedanke an einen Misserfolg so unangenehm ist, dass wir lieber gar nicht erst anfangen. Besonders wenn wir uns in einer Situation befinden, in der vieles nicht in unserer Kontrolle liegt.
Psychologen nennen das „erlernte Hilflosigkeit“. Wenn wir oft genug die Erfahrung machen, dass unsere Anstrengungen ins Leere laufen, verlernen wir mit der Zeit, an unseren eigenen Einfluss zu glauben. Wir entwickeln Strategien, um uns zu schützen – und eine davon ist das Vermeiden. Auf der Webseite Prokrastination-Coach heißt es treffend:
„Viele Menschen prokrastinieren nicht aus Faulheit, sondern aus Angst – Angst vor Misserfolg, Angst vor falschen Entscheidungen oder Angst davor, sich auf eine Richtung festzulegen.“
Aber ist es wirklich Schutz? Oder hält es mich nur noch weiter fest?
Was liegt in meiner Hand?
Ich versuche mir bewusst zu machen, dass es trotzdem Dinge gibt, die ich beeinflussen kann. Ich kann entscheiden, wohin meine Energie fließt. Welche Projekte sich lohnen, auch wenn sie nicht perfekt planbar sind. Mein Alltag ist geprägt von Terminen, Papierkram und der Pflegetätigkeit eines Kindes, das nicht zuverlässig fremdbetreut werden kann. Dazu meine Arbeit, die Verantwortung für meine anderen Kinder, meine Ehe.
Es ist schwer. Aber vielleicht ist der Schlüssel zu einem erfüllten Leben trotz all dieser Hindernisse: Akzeptanz. Vielleicht muss ich noch warten. Vielleicht muss ich annehmen, dass nicht alles in meiner Hand liegt. Aber ich kann trotzdem leben und den Stillstand, den Schwebezustand verlassen.
Und auch wenn mein Leben stiller, langsamer und oft frustrierender ist – ich kann Dinge in Gang bringen. Vielleicht nicht in großen Schritten. Aber Schritt für Schritt. Und vielleicht ist das schon genug.
